Küttiger Anzeiger 2017
Gespräch mit Frau Hedy Müller-Zimmermann Einen Turnschuh am Schlüsselanhänger, ja, das erwartet man nicht so schnell, wenn man eine 92-jährige Dame im Seniorenzentrum besucht. Modisch-adrett gekleidet, gepflegte Frisur, aufrechter Gang. So treffe ich Frau Müller in ihrem wohnlichen Zimmer an. Seit bald 4 Monaten lebt sie hier, hat ihre Wohnung in der Sonnmattstrasse nach 38 Jahren ver- kauft. Äusserlich sieht man nichts von den vielen gesundheitlichen Problemen, die sie schon gemeistert hat: Rückenoperation, Herzopera- tion, sieben ͣ Schlägli ͞ in den letzten 26 Jahren. War das Loslassen schwer oder eher eine Erleichterung? Der Entscheid, ins Seniorenzentrum zu ziehen, war schon schwer, aber es hat auch Vorteile. Zu Hause kochte ich nicht mehr gerne, alleine zu essen machte keine Freude. Nun geniesse ich das Essen und die Gesellschaft. Hier hat es einen Lift, zu Hause machten die Treppen immer mehr Mühe. Die früheren Nachbarn vermisse ich schon, doch von den 58 Bewohnern hier kenne ich fast ein Dutzend. Mit ihnen unterhalte ich mich gerne. Was gefällt Ihnen hier besonders gut, macht Ihnen Freude im Heimalltag? Die Aussicht auf die Wasserflue und den nachts blinkenden Turm gefallen mir. Und, nach aussen vielleicht eine Kleinigkeit, für mich aber wichtig. Der Wäscheservice: Die machen die Wäsche so schön, das hätte ich nicht erwartet! Aber was hat es nun auf sich mit dem Turnschuh? Frau Müller war beruflich Sekretärin. Sie arbeitete ihr ganzes Leben lang Vollzeit ʹ obwohl das damals für Frauen noch gar nicht üblich war: Nach der Lehre bei Fretz folgten 19 Jahre bei Kern und viele weitere Jahre beim Kanton (Erziehungsdepartement) . Ich arbeitete aus Freude am Beruf, nicht, weil das Geld fehlte. Mein Mann war sehr stolz auf mich. Meine Tochter wurde tagsüber mit Hingabe von der Grossmutter betreut. Nach der Pensionierung mit 62 Jahren war meine grösste Freude das Wandern. Ich war 18 Jahre bei Pro Senectute in der ͣ Langwandergruppe ͞ , danach 8 Jahre in der ͣ Kurzwandergruppe ͞ und auf meine Anregung hin wurde schliesslich für die Ältesten eine ͣ Spazierwandergruppe ͞ gegründet, die nun seit 2008 fix im Programm der Pro Senectute existiert. Der Turn- schuhanhänger war ein Geschenk des Wanderleiters an seine treuen Wanderkameraden und -Kamera- dinnen. Heute gehe ich noch jeden Tag 1 Stunde spazieren oder walken in der Gruppe. Ein weiteres Hobby war das Stricken. Ich leitete 14 Jahre lang die Strickgruppe der Migros-Clubschule. Die Frauen strickten Klei- dungsstücke (finanziert von Migros), die sehr gefragt und willkommen waren, für verschiedene Heime im Aargau. Viele Jahre gehörte ich auch den Samaritern an, u.a. 14 Jahre davon als Vizepräsidentin. Möchten Sie etwas verändern und was ? Ich hinterfrage schon etwas die Kosten im Heim. Aber um etwas zu erreichen, müssten viele Bewohner mitmachen. Leider liegt es in der Natur der Sache, dass sich gerade diese oft nicht mehr engagieren können - oder wollen - und somit ein Anlie- gen meist chancenlos ist. Für die Zukunft wünsche ich mir v.a. Gesundheit. Den Anderen helfen, wo meine Gesundheit es zulässt, das mache ich gerne. Schwer ist es, zusehen zu müssen, wenn jemand Hilfe braucht und ich nicht helfen kann. Was halten Sie von den Jungen heute? ͣ Sie haben es nicht leicht, weil sich in kurzer Zeit so viel verändert. Negativ fällt auf, wenn Abfall liegen gelassen wird, die Disziplin fehlt ͞ . Mit einer Tochter und einer Enkelin, die beide weit weg wohnen, habe ich kaum Erfahrung mit Jungen. Das Personal, viele recht jung, machen mir Eindruck. Sie haben keine leichte Aufgabe. Bald müssen wir das Interview beenden: Im Heim steht ein Kinonachmittag an: Der Film ͣ die Herbstzeit- losen ͞ mit Stefanie Glaser in der Hauptrolle. Um die 20 Bewohner sitzen bei Popcorn-Duft im Saal und freuen sich auf den Film. (Redaktionsteam Verein SZW/MS) Dem Alter eine Stimme geben
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